Die Klassenstufe 10 und das Gemeinschaftskunde-Leistungsfach der Kursstufe 1 erlebten am Montag, 22.04., neunzig Minuten, was europäische Politik bedeutet: Rainer Wieland, seit 1997 Mitglied des Europäischen Parlaments, war am RBG zu Gast und bot Einblicke „tief aus dem Maschinenraum“ in Brüssel und Straßburg.
Wieland ist seit 1961 in Gerlingen verwurzelt, saß jahrelang im Gemeinderat und gestaltete darin u.a. die Partnerschaft mit dem englischen Seaham – vor allem aber ist er seit 2009 einer der EU-Parlaments-Vizepräsidenten. Und in dieser Funktion hatte ihn Gemeinschaftskundelehrerin Birgit Hecht eingeladen. Hintergrund ist die bevorstehende Europa- und Kommunalwahl am 09. Juni 2024, bei der erstmals das Wahlrecht ab 16 Jahren gilt. Viele Zehntklässler dürfen also bereits wählen. Wegen des „Abstandsgebots“, dass parteipolitische Veranstaltungen vor einer Wahl an Schulen untersagt, berichtete Wieland vor allem von dem Teil der politischen Arbeit, der in den Schlagzeilen unsichtbar ist – und hielt ein kluges Plädoyer vor den knapp 80 anwesenden Schülern, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen.
In seinem knappen Einführungsvortrag schilderte Rainer Wieland seine berufliche und politische Laufbahn. Anschließend hatten die Anwesenden 60 Minuten Zeit, Fragen zu stellen. Dabei kamen ganz unterschiedliche Aspekte zur Sprache: Was war bisher Ihr größter Erfolg in der Politik? Welche Hürden hatten Sie auf Ihrer Laufbahn zu überwinden? Wie hat sich das Parlament in den letzten Jahrzehnten verändert? Spürt man angesichts der aktuellen Kriege und Krisen Unruhe und Anspannung unter den Abgeordneten? Wieland nahm sich Zeit, die Fragen ausführlich zu beantworten, räumte mit manchen Vorurteilen auf und ließ auch grundsätzliche Überlegungen über die Bedeutung von Parteien oder die Herausforderungen und Chancen der Zusammenarbeit in einem vielgestaltigen Europa einfließen. „Jedes Land hat seinen Platz auf der Landkarte. Und von dem Platz kann es nicht weg“, formulierte Wieland als Kern einer europäischen Perspektive auf politische Sachfragen. Er erläuterte, wie wichtig es ist, die unterschiedlichen Sichtweisen zu bedenken, die Besonderheit des anderen zu sehen, indem er die Auswirkungen für Fragen der Landwirtschaft, der Außenpolitik, der Geschichtsauffassung usw. an Beispielen skizzierte – bis hin zur der EU-Richtlinie für Sportboote. Anhand unspektakulär wirkender Themen wie der Einführung eines Unions-Patentes, der Benennung von Gebäuden und Räumen oder des SEPA-Beschlusses wurde anschaulich, wie vielschichtig und kleinteilig politische Arbeit auf europäischer Ebene ist.
Wichtig für die Politik seien die „Basics“, wozu Nation, Religion und das Recht zählten. Vor jedem notwendigen und wichtigen Streit über Sachfragen müssten in diesen Bereichen grundsätzliche Spielregeln akzeptiert sein, die Wieland in einfacher, für die Schüler griffiger Sprache, definierte. Demokratie bedeute, dass „nicht der Pflasterstein entscheidet“.
Mit dem Zitat des ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „Der Friede ist der Ernstfall, in dem man sich bewähren muss“, schloss er die Veranstaltung und bezeichnete das bequeme Sofa als heutzutage „mächtigsten Gegner“ der Politik. Sein Publikum forderte er heraus, diese Bewährungsaufgabe anzunehmen.
Wieland zeigte sich als engagierter und glaubwürdiger Europapolitiker – und gewann damit die konzentrierte Aufmerksamkeit der allermeisten seiner jungen Zuhörer über die vollen 90 Minuten.